Fortschritt ist tot – aber er regiert weiter
Slavoj Žižeks „Against Progress“ und die Frage: Was tun?, oder: was ich an Žižek kritisiere

Der Fortschritt als Zwangsritual
Ein Algorithmus entscheidet, wer einen Kredit bekommt. Ein Drohnenschlag wird als humanitäre Intervention verkauft. Eine Influencerin postet ihren Burnout als Beweis ihrer Produktivität. Willkommen im Zeitalter des Fortschritts. Slavoj Žižek sagt: Der Fortschritt ist tot – aber er regiert weiter.
In seinem neuen Buch Against Progress liefert er eine hellsichtige, düster-brillante Abrechnung mit der liberalen Moderne. Fortschritt, so Žižek, sei längst keine Emanzipation mehr, sondern Ideologie – eine Simulation von Bewegung, die den Stillstand verschleiert. Wer glaubt, dass Geschichte sich auf einer Linie fortentwickelt, ist längst Teil eines Prozesses, der Kritik, Konflikt und Klassenfrage in Wahlfreiheit, Nachhaltigkeit und Empörung auflöst.
Diese Diagnose ist stark – und doch bleibt sie unvollständig. Denn was Žižek beschreibt, ist das Symbolische. Was fehlt, ist das Konkrete: Klasse, Kapital, Kämpfe. Meine Frage ist: Was verschweigt Žižeks brillante Negation – und was folgt aus ihr?
Fortschritt als melancholischer Loop
Žižek entlarvt die Fortschrittserzählung als kollektive Selbsttäuschung. Wir wissen, dass es nicht weitergeht – ökologisch, sozial, politisch – und doch tun wir so, als ob. Fortschritt wird zur melancholischen Struktur, wie Lacan sie beschrieb: Das Objekt ist verloren, aber das Begehren hält daran fest. Statt Revolution erleben wir Optimierung, statt Aufbruch Selbstvermessung, statt Politik Plattformisierung.
Diese Ideologiekritik trifft ins Schwarze. Sie erinnert an Walter Benjamins Bild des Engels der Geschichte, der vom Sturm des Fortschritts rückwärts in die Katastrophe getrieben wird. Žižek übersetzt dieses Bild in unsere Gegenwart: Die Katastrophe ist automatisiert, verwaltet, moralisch gerechtfertigt.
Doch dieser Fortschritt ist nicht nur Diskurs. Er ist die Form, in der der Kapitalismus sich selbst erneuert.
Das Kapital bleibt unsichtbar
Hier liegt das erste große Problem. Žižeks Fortschrittskritik bleibt oft bei der Oberfläche. Er dekonstruiert die Symbole – aber lässt die Produktionsverhältnisse unberührt. Der Kapitalismus erscheint nicht als historisch-materielle Formation, sondern als psychoide Struktur: Begehren, Mangel, Leere. Das Kapital wird zum Zeichen, nicht zur Macht.
Doch Fortschritt ist nicht bloß Illusion – er ist die ideologische Erscheinungsform realer kapitalistischer Dynamik: Akkumulation, Externalisierung, Wachstumszwang. Fortschritt dient nicht dem Menschen, sondern dem Wert. Er organisiert Zeit, Raum, Körper – nicht aus Humanismus, sondern aus Verwertungslogik. Eine marxistische Analyse muss dorthin zurück: zur materiellen Basis der Simulation.
Was Žižek zeigt, ist richtig. Was er nicht zeigt, ist entscheidend.
Subjekt ohne Struktur, Sprung ohne Strategie
Žižeks bevorzugtes Terrain ist das Subjekt: zerrissen, widersprüchlich, unvollständig – ein Ort der Unterbrechung. Seine Philosophie feiert den Bruch, das Unerwartete, das Ereignis. Aber wie wird aus dem Sprung eine Bewegung, aus der Negation eine Form?
Hier beginnt die zweite Leerstelle: Organisation. Žižek spricht nicht von Partei(lichkeit), nicht von Klassenmacht, nicht von Streik oder kollektiver Infrastruktur. Seine Revolution ist ein Moment, kein Prozess. Sie geschieht – oder nicht. Der Alltag, die Reproduktion, die Institutionen: Sie fehlen.
Doch eine Politik der Negation ohne Organisation bleibt Geste. Fanon nannte die Revolution „die Therapie des kolonialen Subjekts“. Benjamin sprach von der „Notbremse“. Holloway von der „Revolution ohne Machtübernahme“. All das impliziert: Bruch braucht Richtung, Negation braucht Struktur.
Technologie: keine Diskursmaschine, sondern Eigentumsfrage
Besonders auffällig wird Žižeks Begrenzung in seiner Kritik an Digitalisierung und KI. Er analysiert Algorithmen als strukturierende Signifikanten – aber nicht als Produkte politökonomischer Machtverhältnisse. Plattformen erscheinen bei ihm als kulturelle Apparate – nicht als Monopole mit realer Enteignungspraxis, extraktiver Infrastruktur und geopolitischer Bedeutung.
Doch Plattformkapitalismus ist nicht bloß Technik. Er ist Klassenprojekt. Die Serverfarmen, Lieferketten, Clickworker und Rechenzentren gehören jemandem – und dienen der Kapitalverwertung. Wer das übersieht, psychologisiert die Kontrolle und verfehlt die Chance, sie materiell zu brechen.
Was Žižek beschreibt, ist wichtig – aber es reicht nicht.
Fortschritt ohne Alltag
Schließlich fehlt in Against Progress die Konkretion des Alltags. Es gibt keine streikenden Plattformarbeiterinnen, keine Mietkampagnen, keine migrantischen Kämpfe, keine Pflegekrisen, keine politischen Bewegungen. Die Welt bleibt symbolisch – aber die Menschen, die kämpfen, bleiben unsichtbar.
Ich würde sagen: Das Reale ist nicht nur ein Konzept – es ist erfahrbar. In der Hitze auf dem Bau. In der Angst vor der Abschiebung. Im Erschöpfungszustand der Pflegekraft. Die Revolution beginnt nicht im Kopf – sondern im Widerspruch.
Was tun? Konkretisierung des Bruchs
Was bleibt, wenn Žižeks Negation nicht genügt? Keine Antwort im Sinne eines neuen Fortschritts – aber eine Richtung:
- Vergesellschaftung statt Verwaltung
- Kämpfe von unten statt moralischer Konsum
- Digitale Enteignung der Enteigner statt smarter Governance
Was es braucht, ist ein Fortschrittsbegriff jenseits des linearen Denkens – ein emanzipatorisches Projekt, das Konflikt, Krise und Kollektiv wieder zusammendenkt. Eine Politik, die nicht besser verwalten, sondern anders leben will.
Žižek ist dafür ein guter Ausgangspunkt. Aber wir dürfen nicht bei ihm stehen bleiben.
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