Gegen den Fortschritt – Slavoj Žižeks Revolution der Negation
Fortschritt als Fetisch unserer Zeit

Vorwort:
Ich bin Fan von Žižek. Zum ersten mal sah ich ihn 2001 in Essen auf einer Konferenz, er sprach über Lenin. Ich dachte mir, was für eine Explosion an Ideen, was für ein witzig-skuriller Typ. Dann sah ich ihn, ich glaube es war 2011, auf der Marx is muss Konferenz in Berlin. Er hat mit Alex Callicos über marxistisch Philosophie diskutiert und war eindeutig der brillantere Denker, wobei ich ja wirklich nichts gegen marxistische Orthodoxie habe, die Callinicos vertrat. Im Laufe der Jahre laß ich immer mal ein Buch, oder sah mir seine medialen Auftritte an. Jetzt ist er 76 Jahre alt und ist noch immer ein brillianter unorthodoxer Denker. Die heutige Welt kann man aus meiner Sicht eindeutig besser verstehen mit Žižek. Durch Zufall habe ich sein neues Buch entdeckt, gibt es wohl nur auf englisch bisher. Der erste Teil ist der Versuch, seine Gedanken auf den Punkt zu bringen. Im zweiten Teil werde ich Žižek aus meiner Perspektive kritisieren bzw. weiterdenken. Viel Spaß beim lesen !
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Gegen den Fortschritt – Slavoj Žižeks Revolution der Negation
Fortschritt als Fetisch unserer Zeit
Was, wenn der Fortschritt selbst das letzte Gefängnis ist? Nicht die Barbarei der Vergangenheit, nicht der Faschismus von gestern – sondern die algorithmische Humanität, die grün etikettierte Kontrolle, die allgegenwärtige Verwaltung der Zukunft. Slavoj Žižek legt mit seinem neuen Buch "Against Progress" (2025) eine radikale These vor: Der Fortschritt ist tot – aber er regiert weiter. Was als Bewegung erscheint, ist Stillstand; was als Emanzipation verkauft wird, ist Optimierung. Der Fortschritt ist kein Versprechen mehr, sondern ein Fetisch – eine symbolische Form, die das Begehren organisiert, ohne es je zu erfüllen.
Žižek denkt mit Hegel, Marx und Lacan – aber gegen das Silicon Valley, gegen die Plattformlinke, gegen die liberale Vernunft. Der Fortschritt erscheint in seiner Analyse nicht als historische Notwendigkeit, sondern als ideologisches Konstrukt, das die Reproduktion der bestehenden Ordnung sichert. Die Erzählung von linearer Entwicklung ersetzt den Bruch mit den Verhältnissen. Die Zukunft wird zur Ware – und das Subjekt zum Kunden seiner eigenen Entfremdung.
Digitalisierung als Entsubjektivierung
Besonders scharf ist Žižeks Kritik an der Digitalisierung. Was als neue Autonomie gefeiert wird – künstliche Intelligenz, smarte Tools, Plattformeffizienz – ist in Wahrheit die schleichende Abschaffung des Subjekts. Der Fortschritt in der digitalen Welt bedeutet nicht Freiheit, sondern strukturelle Vorauswahl, automatisiertes Begehren, algorithmisch gelenkte Entscheidungen. Der Mensch klickt, was der Code vorsortiert hat. Wahlfreiheit wird simuliert, Kontrolle internalisiert. Die Ideologie ist nicht repressiv, sondern freundlich – aber genau deshalb total.
Die technologische Verwaltung ersetzt nicht nur Arbeit, sondern auch Verantwortung. Wir leben in einer Welt, in der Chatbots Vorstellungsgespräche führen, während der Mensch seine Relevanz beweisen muss. Fortschritt heißt heute: Effizienz ohne Richtung, Geschwindigkeit ohne Ziel, Berechnung ohne Bewusstsein. Die algorithmische Welt ist kühl, genau – und leer.
Krieg als humane Operation
Žižek dekonstruiert auch die neuen Kriegsformen als Fortsetzung des Fortschritts mit anderen Mitteln. Humanitäre Interventionen, präzise Drohnenschläge, moralisch gerahmte Gewalt – das ist der neue Krieg, fortschrittlich, administriert, juristisch legitimiert. Die Barbarei wurde technisch veredelt. Getötet wird entpersonalisiert, entmoralisiert, effizient. Der Fortschritt ermöglicht Gewalt ohne Blut – und ohne Schuld.
Der Krieg ist kein Ausnahmezustand mehr, sondern Teil des globalen Sicherheitsmanagements. Er wird von Apps begleitet, durch Statistiken legitimiert und in PR-Kampagnen humanisiert. Die Barbarei wird nicht verneint, sie wird organisiert. Fortschritt, so Žižek, ist heute die Form, in der das Unrecht sich modernisiert.
Die Linke im Fortschrittsloop
Am radikalsten ist Žižeks Kritik an der Linken selbst. Wer den Fortschritt nicht infrage stellt, wird sein Vollstrecker. Die progressive Linke – NGOs, Diversity-Offices, moralisch gestählte Mittelklassen – hat sich im Fortschrittsdiskurs eingerichtet. Statt Revolution gibt es Resilienz, statt Klassenkampf Aufmerksamkeitsökonomie, statt kollektiver Strategie individuelle Empörung. Der Kapitalismus hat gelernt, sich pluralistisch zu kleiden. Die Inklusion ersetzt die Emanzipation. Die Gerechtigkeit wird zur Ästhetik – in Apps, Workshops, Erklärtexten.
Was fehlt, ist der Universalismus – nicht als abstrakter Begriff, sondern als reale Bewegung des Bruchs. Žižek ruft nicht zur Verbesserung der Gegenwart auf, sondern zu ihrer Unterbrechung. Fortschritt wird nicht durch bessere Tools überwunden, sondern durch die Entscheidung für das Unmögliche. Wer Veränderung will, muss den Fortschritt infrage stellen – nicht seine Parameter optimieren.
Fortschritt als melancholische Struktur
In einem seiner stärksten Kapitel beschreibt Žižek die Fortschrittsgesellschaft als melancholisch. Sie weiß längst, dass es nicht weitergeht – aber sie tut so, als ob. Sie optimiert, was sie nicht mehr glaubt. Sie beschleunigt, was sie nicht mehr versteht. Sie verspricht, was sie nie einlösen wollte. Fortschritt ist keine Bewegung, sondern eine Erschöpfung. Ein Symptom. Eine Struktur der Vermeidung.
Der Fortschritt hat sich selbst überlebt, aber er strukturiert noch immer das Denken. Wer etwas anderes denken will, muss nicht vorwärts – sondern anders. Er muss nicht modernisieren – sondern negieren. Fortschritt ist nicht falsch, weil er veraltet ist, sondern weil er das Neue verhindert.
Apokalypse als Enthüllung
Žižek beendet sein Buch mit dem Ruf nach einer linken Apokalypse. Nicht im religiösen Sinne, sondern im wörtlichen: als Enthüllung. Apokalypse heißt, das Unhaltbare zu benennen. Nicht zu reparieren, sondern zu verlassen. Nicht zu optimieren, sondern zu unterbrechen. Revolution ist nicht Fortschritt plus Moral – sondern Bruch plus Wahrheit.
In Žižeks Denken ist das Subjekt nicht das Zentrum des Fortschritts, sondern sein Ort der Störung. Nur durch den Riss, den es in die Ordnung bringt, kann Geschichte beginnen. Die Zukunft liegt nicht in der Planung, sondern im Sprung. Fortschritt ist der Name der Verwaltung – Revolution ist der Name der Befreiung.
Kein besserer Fortschritt – eine bessere Katastrophe
Slavoj Žižek fordert nichts weniger als den Ausstieg aus dem Fortschritt. Nicht um der Vergangenheit willen, sondern im Namen einer anderen Zukunft. Sein Buch ist ein Manifest des Bruchs, eine Theorie der Negation, ein Aufruf zur symbolischen Unterbrechung. Es ist kein Rückzug, sondern ein Angriff – gegen die melancholische Moderne, gegen die kontrollierte Linke, gegen den digitalen Konsens.
Wir brauchen keinen besseren Fortschritt. Wir brauchen eine bessere Katastrophe.
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